Latein

ist eine alte Dame unter den Sprachen. Aber lassen wir sie selbst zu Wort kommen. Unser ehemaliger Kollege Herr Drescher hat sie für uns im Gespräch mit einem ihrer Kritiker belauscht.


Latein? Nein-danke!?

"Wie bitte? Da muss ich aber heftig protestieren! Wer ist das `ich?´ Ich, ich bin die lateinische Sprache, mehr als 2000 Jahre alt, steinalt sozusagen und in der modernen, digitalisierten Welt nicht mehr zu gebrauchen. Tot bin ich auch noch! Wer will denn und wozu eine derartige Sprache lernen, die  niemand mehr spricht - von einigen elitären Grauköpfen in ihren separaten Zirkeln mal abgesehen? Bin ich also verloren?
Offensichtlich nicht ganz, denn immer noch entscheiden sich etliche Schüler für mich, wollen mich lernen. Warum?
Ich bin die Basis vieler moderner Sprachen, vor allem der romanischen, wie Italienisch, Französisch, Spanisch, um nur die wichtigsten zu nennen; aber auch über 50% des englischen Wortschatzes, einer germanischen Sprache, basieren auf dem Lateinischen. Ohne mich gäbe es diese Sprachen der Gegenwart gar nicht!"
"Und deshalb muss ich diese alte Sprache tagtäglich mühsam lernen, da nehme ich doch gleich diese vergeudete Zeit für die lebendigen Sprachen, da kann ich gleich munter drauf los reden, mich verständigen und Erfolgserlebnisse haben!"
"Aber noch mühsamer wird es sein, ohne Bezug zu einem Wort, dieses zu pauken, keine Affinität zu der modernen Sprache zu haben; umso leichter dürfte es sein, einmal ein lateinisches Wort zu verinnerlichen und dieses als Basis für die modernen Vokabeln zu haben! Hören wir ein Beispiel: lat. venire = kommen, ital. venire, franz. venir, span. venir. Wer also zuerst Latein, also mich lernt, hat große Vorteile, die anderen Sprachen im Kern zu verstehen; ich biete also die Grundlage dafür zu begreifen, wie moderne Sprachen funktionieren."
"Das wird einem Schüler doch auch im modernen Fremdsprachenunterricht beigebracht, da brauche ich nicht jahrelang dieses alte, tote Zeug!"
"Ihre Kinder können überhaupt nur eine Fremdsprache verstehen, wenn sie ihre eigene Muttersprache, das Deutsche, begreifen. Hier biete ich fundamentale Kenntnisse der Grammatik, der syntaktischen Strukturen. Ich gleiche auch grammatikalische Defizite in der eigenen Sprache, im eigenen Wortschatz aus, ergänze somit den Deutschunterricht, sodass Ihr Kind eigene Fehler erkennt und reflektiert - kurz: sein eigenes Sprachgefühl schult."
"Das glaub´ ich so nicht, das lernt man auch im Grammatikunterricht einer modernen Sprache."
"Mal abgesehen davon, dass es  nicht einmal die deutsche Sprache ohne mich gäbe - man  betrachte nur die zahlreichen Lehnwörter (lat. murus = Mauer), trage ich wesentlich zum genauen  Hinschauen, zur Konzentration bei, oberflächliches Anlesen gibt´s bei mir nicht. Ich kämpfe regelrecht für exaktes, denkendes, reflektierendes Arbeiten. Gerade bei unserer Wischkästchen-Wortfetzengeneration (Ich Bus, du auch?) vermittle ich cognitive Gegenpositionen sowie Fähigkeiten, die die eigene Individualität und Persönlichkeit stärken. Nahezu alle Fächer an den Schulen und Universitäten holen sich ihre Begrifflichkeiten von mir, soll heißen, dass eine bessere Bewältigung von Lernsituationen durch mich gewährleistet wird. Selbst die Naturwissenschaften, wie Biologie, Chemie, und Physik, lassen sich in der Arbeitsweise mit Latein vergleichen, da das abstrakte Denken gefördert wird. So stößt die Entwicklung der Naturwissenschaften von der Antike bis zur Neuzeit auf ein größeres Verständnis, wenn man das betreffende Basiswissen besitzt. Das Fach Mathematik, das bekanntlich zu den Geisteswissenschaften gehört, profitiert vom Erlernen des Lateinischen. So zeigt eine jahrzehntelange Erfahrung, dass beide Fächer, Latein und Mathematik, sich gegenseitig im Verständnis und in den Leistungen ergänzen: Wer in Latein gut ist, ist oft auch in Mathematik gut.
Unser Staatswesen, unsere gesamte Kultur, unsere Kunst sowie Literatur, die Philosophie haben ihre Wurzeln in der antiken Welt der Griechen und Römer. Heute noch gibt es an der Universitäten Europas Institute für römischen Recht, das unseren Rechtsstaat nachhaltig geprägt hat und weiterhin prägt."
"Jaja, diese Argumentation kennen wir schon, das ewig Gestrige lernen,  nicht die Gegenwart; wenn ich Jura studiere, komme ich automatisch für einige Augenblicke auf diese alten Inhalte, im Vordergrund muss jedoch mein Fach stehen, das ich studiere, nicht dessen Geschichte! Eine rückwärtsgewandte Haltung bringt doch niemand weiter, die Zukunft muss im Blick stehen! Die Herausforderungen der Gegenwart sind offensiv anzugehen, nicht eine verklärende Vergangenheit!"
 "Aber denken Sie doch an Ihre Kinder in den Schulen! Beschäftigen die sich nicht mit wahrer Begeisterung für die alten Römer und Griechen? Manche wissen über die ägyptischen Pharaonen und deren Mumifizierung mehr als ihre Lehrer! Und die modernen Schulbücher  erst! Die Schülerinnen und Schüler lernen nahezu wissensdurstig   die neuen Vokabeln, um die Inhalte der Lesestücke endlich verstehen zu können. In der Oberstufe schließlich setzen sich die jungen Menschen mit den elementaren Inhalten des menschlichen Lebens auseinander. Freude, Glück, Liebe,  aber auch Leid und Trauer sind doch existentielle Erfahrungen menschlichen Lebens, die keine zeitlichen Begrenzungen in sich haben, vor allem weisen sie keine sozialen, schichtbezogenen Barrieren auf. Warum wollen Sie Ihren Kindern diese profunden Themen der antiken Philosophie vorenthalten?
Was macht denn unser Gemeinwesen aus? Wie ist es entstanden und warum? Was können wir für  die Gegenwart daraus ableiten! Der Unterricht in diesen Themen  ist kein Selbstzweck, sondern er muss darauf abzielen, welche Lehren wir aus den lateinischen Texten für uns, für die Zukunft der uns anvertrauten Schülerinnen und Schüler ziehen!  `Nachhaltigkeit´ ist das heutzutage griffige Wort für die Lehr-und Lerninhalte, ja für den gesamten Unterricht.
Und diese Nachhaltigkeit bietet die lateinische Sprache in ihrer Ganzheitlichkeit den Schülerinnen und Schülern am Gymnasium an."
"Naja,  so überzeugt bin ich nicht! Dann soll halt mein filius Latein lernen, wenn er will. Seine Freundin aus der Nachbarschaft ist ja ganz begeistert."

Peter Drescher